Mama take me out of here

„Wenn wir schon hier sind, dann besteigen wir auch den Kilimanjaro,“ hatte J. so ganz nebenbei gesagt, als wir in Stone Town auf Sansibar in einer Teestube saßen und Pfefferminztee tranken. Wir hatten weder eine geeignete Ausrüstung dabei (mit Ausnahme unserer Wanderschuhe), noch waren wir physisch auf so ein Vorhaben vorbereitet. Für spontane Aktionen bin ich immer zu haben – aber einen 6000er besteigt man nicht einfach nebenbei. In Moshi könne man alles mieten, was für die Besteigung des Kili nötig sei, und dort würden wir auch einen erfahrenen Führer auftreiben, versuchte J. meine Einwände zu entkräften. Und selbstverständlich würden wir den Gipfel nicht über die schwere Whiskey-Route erklimmen, sondern den Berg auf der so genannten Coca-Cola-Route besteigen, der Route für Weicheier, wie der Name schon sagt.  Ich wollte ihm widersprechen, aber seine Begeisterung für dieses Vorhaben war einfach zu groß. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass die Besteigung des 6000ers nicht unser einziges Abenteuer werden würde.

Schon zwei Wochen später waren wir auf dem Weg zum Dach Afrikas. Wir durchquerten in fünf Tagen alle Klimazonen, vom tropischen Regenwald bis zur arktischen Zone auf dem Gipfel. Der steile Aufstieg am letzten Tag über das Aschefeld war für mich eine Grenzerfahrung. Die Höhe machte mir gewaltig zu schaffen. Bei Sonnenaufgang erreichten wir den Rand des Kibokraters – ein tolles Erlebnis – aber ich war vollkommen fertig. Es heißt, wer den Kraterrand erreicht hat, kann von sich behaupten, den Kilimanjaro bestiegen zu haben, obwohl der höchste Punkt – der 5895 Meter hohe Uhuru Peak – noch einige hundert Meter und einen eineinhalbstündigen Fußmarsch entfernt ist. Ich hatte mein Ziel erreicht und wollte und konnte nicht mehr weiter. Mich am Kraterrand zurückzulassen war aber keine Option für unseren Guide Peter. Ich glaube, das kratzte an seiner Ehre. „Mama, I will bring you to the summit – please trust me“. Ich konnte Peter einfach nicht enttäuschen und so gelangte ich am Ende doch noch zum höchsten Punkt Afrikas – aber das Bild, das ich dabei abgegeben habe, war erbärmlich. Wie ein nasser Sack hing ich an dem kleinen durchtrainierten Mann, der mich die letzten Meter über das Eisfeld mehr schleppte als stützte.

Zwei Tage später waren wir wieder unten in der Zivilisation. Verdreckt, verschwitzt und erschöpft aber glücklich nahmen wir unsere Urkunden im Nationalparkbüro in Empfang. Unsere Crew, zu der außer Peter noch John, der Koch und die zwei Träger Valence und Jimmy gehörten, mochten wir aber nicht so schnell gehen lassen. Sie hatten uns in den letzten sechs Tagen treue Dienste geleistet und waren uns regelrecht ans Herz gewachsen. Mit einer kleinen Feier wollten wir uns bei ihnen bedanken und luden sie ins Restaurant unseres Hotels ein. Wir brachten unser Gepäck aufs Zimmer und machten uns frisch. Ich eilte als erste zurück in den Garten, weil ich unsere Gäste nicht zu lange warten lassen wollte. Zu meiner Überraschung traf ich dort niemand an. Der Kellner, der sofort herbeigeeilt kam als er mich sah, erklärte mir, dass die vier Männer vom Manager wieder vor die Tür auf die Straße geschickt worden waren, weil es „Schwarzen“ nicht gestattet sei, sich im Garten aufzuhalten ohne Begleitung weißer Gäste. Ich war nicht nur sauer, sondern richtig wütend und stürmte zur Tür. Draußen auf der Straße traf ich auf ein großes Durcheinander. Ein Pulk von Männern stand dort und diskutierte aufgeregt. Gerade sei die Polizei da gewesen und habe drei der Jungs mitgenommen, weil sie angeblich keine gültige Lizenz vorweisen konnten. Die Sache mit der Lizenz war so: sie berechtigte zur Arbeit mit Touristen und musste regelmäßig verlängert werden, das war teuer. Nur größere Unternehmen konnten sich das leisten. Viele der selbständigen Guides waren nicht in der Lage die Verlängerung bei schlechter Auftragslage zu finanzieren.

Der Bruder von John, dem Koch, kam auf mich zu, er sprach englisch. Die drei seien jetzt sicher schon im Gefängnis, vermutete er, das sei ganz in der Nähe. Ich beschloss kurzerhand, die Männer unverzüglich zu befreien. Schließlich war es unsere Schuld, dass sie festgenommen worden waren. Ich war so von meinem schlechten Gewissen geleitet, dass ich völlig vergaß, J. über mein Vorhaben zu informieren. Johns Bruder begleitete mich zur Polizeidienststelle, wo sich auch das Gefängnis befand.   Sie lag wesentlich weiter von unserem Hotel entfernt, als ich erwartet hatte. Der Eingangsbereich war ein halboffener Raum mit drei Wänden und hinter einem langen Tresen saß ein kräftiger uniformierter Polizist, der sich sehr wichtig vorkam. An der Wand rechts neben dem Tresen gab es eine Tür, die mit einem offenen Gitter versehen war – das war die Zelle. Hinter dem Gitter drängten sich die eingesperrten Strafgefangenen. Weil der dunkle fensterlose Raum völlig überfüllt war und es an Sauerstoff mangelte, versuchte jeder so nah wie möglich an das einzige Luftloch des Raums zu gelangen. Ich erklärte dem Polizisten mein Anliegen und bot ihm an, sofort die Lizenzgebühren auf den Tisch zu legen, damit die drei Männer wieder freikämen. Aber so einfach ließ sich der Ordnungshüter nicht überzeugen. Die Männer säßen im Gefängnis, weil sie ein Gesetz gebrochen hätten und das müsste gesühnt werden. Mein Flehen half nichts, der Mann blieb hart und da ich der Korruption keinen Vorschub leisten, ihn also nicht bestechen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als damit zu drohen, dass ich das Gebäude ohne die Männer nicht verlassen würde. Ich setzte mich auf die Treppe gegenüber der Zellentür und begann in meiner Verzweiflung zu weinen. Damit hatte der ungnädige Polizist nicht gerechnet – eine weinende weiße Frau in seiner Polizeiwache – das ging gar nicht. Er kam hinter dem Tresen hervor und bat mich und meinen Begleiter, ihm nach oben in sein Büro zu folgen. Dort rief er seinen Vorgesetzten an, dem er auf Swahili sein Problem schilderte. „Er fragt, was er mit dieser weinenden Weißen tun soll“, übersetzte Johns Bruder. Nachdem der Polizist aufgelegt hatte, schaute er mich an und sagte: „Okay, du kannst die Männer mitnehmen, aber du allein musst sie unter all den anderen Gefangenen identifizieren“. Mir stand der Schweiß auf der Stirn – nicht nur, weil es immer noch drückend heiß war, sondern auch, weil mir klar wurde, dass diese schier unlösbare Aufgabe sein Trumpf war. Die schwarzen Gefangenen waren kaum bekleidet und sahen für mich alle gleich oder zumindest sehr ähnlich aus. Am Schlimmsten war, dass jetzt alle riefen „Mama, it is me – take me out of here“. Ich stand vor der vergitterten Zellentür und war verzweifelt – da drängte sich am Rand der Tür ein Kopf zwischen den anderen hindurch und flüsterte: „Mama, don´t you know me, it´s me?“ Ich atmete auf – es war Valence, der jüngste unserer beiden Träger, den ich besonders ins Herz geschlossen hatte. Während ich den befreiten Jungen in die Arme schloss, flüsterte er mir zu, dass nur er im Gefängnis gelandet sei, die anderen hatten im letzten Moment entkommen können.

Inzwischen war es dunkel geworden und erst jetzt fiel mir ein, dass ich J. über mein Vorhaben nicht informiert hatte. Obwohl er inzwischen schon ziemlich abgebrüht im Umgang mit meinen Eskapaden war, hatte  er sich in der Zwischenzeit doch Sorgen um mich gemacht. Er war gerade dabei mit einem der Männer, die noch immer vor dem Hotel standen, zur Polizeidienststelle aufzubrechen, als wir drei glücklich strahlend die Straße entlang geeilt kamen.

Am nächsten Morgen wurden wir im Hotelgarten schon von Peter und seiner Crew erwartet. Der Manager, dem die Aktion am Vortag nicht entgangen war, hatte ihnen diesmal den Zutritt zum Hotelgelände gewährt. Als Dankeschön hatten mir die Männer ihr einziges Foto von Yohani Kinyala Lauwo mitgebracht, einem erst kürzlich verstorbenen Bergführer aus ihrem Heimatort Marangu. Nach Darstellung der Regierung von Tansania soll er derjenige gewesen sein, der Hans Mayer im Jahr 1889 bei der Erstbesteigung des Kilimanjaro begleitet hat, eine These, die inzwischen übrigens widerlegt wurde. Es war dennoch ein besonders schönes Geschenk, das mich jahrelang immer wieder an das Ereignis in Moshi erinnert hat. Jetzt suche ich es seit Wochen – es ist beim Umräumen der Wohnung auf rätselhafte Weise verschwunden.

PS. Die Geschichte ereignete sich 1997. Seither ist das südliche Eisfeld auf dem Kilimanjaro um 50% zurückgegangen.  

Hinterlasse einen Kommentar