Sommerspezial Berlin / 2: Frei sein in Berlin

J. / 54 / ♂️

Ich bin in Campinas, Brasilien geboren. Am 13. Juli 1995 bin ich nach Berlin geflogen, um zu schauen, wie mir die Stadt gefällt. Damals war ich 28 Jahre alt. Mein Freund P., den ich schon seit meiner Kindheit kenne und der schon länger in Berlin lebte und seine Frau A. hatten bei einem Besuch in Brasilien einige Jahre zuvor versucht, mich davon zu überzeugen, nach Berlin zu kommen. Vielleicht war ich auch ein Stück Heimat für P. , ich weiß es nicht. Ich selbst war nie auf die Idee gekommen, aus Brasilien wegzugehen. 

Ich hatte acht Jahre lang in São Paulo gelebt und dort Pädagogik studiert. Außerdem hatte ich zwei Ausbildungen, als Erzieher und als Schauspieler. 

1995 stand nun meine Reise nach Berlin an. Ich konnte wegen der Uni nur im Juli fliegen und P. meinte, dass das sehr schade sei, weil ich drei wesentliche Sachen verpassen würde: den Christopher Street Day, die Love Parade und die Reichstagsverhüllung von Christo. 

Mein erster Sommer in Berlin war wunderschön. Es war wirklich Sommer, wochenlang war schönes Wetter. Ich wohnte bei A. und P. unweit vom Savignyplatz. Ich war viel mit dem Rad unterwegs. Das war für mich ein unbeschreibliches Gefühl, auch weil das in São Paulo undenkbar gewesen wäre.

Abends radelte ich mit A. und P. häufig zum Temprodrom, wo die Veranstaltungsreihe „Heimatklänge“ unter dem Motto „umsonst und draußen“ stattfand. Ich habe das Leben in Berlin von Anfang an genossen. Ich fühlte mich frei. Das war schön. Morgens, bevor A. zur Arbeit ging, legte sie mir den Stadtplan auf den Küchentisch, verbunden mit einem Vorschlag, wohin ich radeln könnte. Und ich radelte los, jeden Tag zu einem anderen Ziel. Radelnd lernte ich die Stadt kennen. Es war herrlich. Dadurch, dass ich mit dem Radeln beschäftigt war, musste ich nicht so oft an E. denken, denn er war der eigentliche Grund gewesen, warum ich zu Besuch in Berlin war. Ich hatte mich in Brasilien in ihn verliebt, aber E. zog es nach Paris. Ich litt fürchterlich. Berlin ist näher an Paris als São Paulo, dachte ich, deshalb entschloss ich mich zu der Reise nach Berlin. Leider hatte sich E. nicht so sehr nach mir gesehnt, wie ich mich nach ihm. Als ich ihn anrief, meinte er „Was machst du denn hier? Ich habe schon jemand anderen.“ Das war ein Schock für mich. Ich war am Boden zerstört. 

Bald danach entschloss ich mich, mein Rückflugticket verfallen zu lassen und in Berlin zu bleiben. Trotz meines Kummers war ich beseelt von dieser Stadt, in der ich so viel machen und so vieles entdecken konnte. Ich war frei, das war das Gefühl, das mich dominierte und glücklich machte, obwohl ich auf der anderen Seite unglücklich war wegen E.. 

Berlin war nicht der Grund, warum ich gekommen war, aber weshalb ich geblieben bin. Ich hatte mich Hals über Kopf in Berlin verliebt. 

Anfang August bin ich in meinen ersten Deutschkurs gegangen. Ich habe die Niveaustufen A1, A2, B1 absolviert. Dann habe ich alle Kurse wiederholt und danach noch ein drittes Mal. Sprachbegabt bin ich offensichtlich nicht. Ich habe andere Talente.

Später habe ich angefangen, in meinem Beruf als Pädagoge zu arbeiten. Was mich noch glücklicher gemacht hat war, dass ich meine pädagogische Arbeit mit der Theaterarbeit verbinden konnte. Das Labyrinth Kindermuseum Berlin, wo ich viele Jahre arbeitete, war ein idealer Ort, um diese Kombination auszuprobieren, damit zu spielen und sie weiterzuentwickeln. 

Berlin war auch der erste Ort, an dem ich erlebt habe, dass Menschen ihre sexuelle Orientierung offen ausleben können. In Brasilien musste ich meine Homosexualität verstecken. Ich hatte keine Vorbilder, die mir gezeigt haben, dass es anders geht. Das gab es in meinem Umfeld nicht. In Berlin traf ich schwule Menschen sowohl privat als auch in beruflichen Kontexten. Einige Jahre nachdem ich nach Berlin gekommen war, hatte die Stadt sogar einen schwulen Bürgermeister, Klaus Wowereit. Einer meiner ersten Jobs hatte ich bei einem schwulen Schauspielerpaar. Ich war irritiert und dachte: „Kann man so etwas machen?“ Ich erlebte, ja, das geht und ist in Berlin nichts besonderes. 

Mir fällt im Zusammenhang mit Berlin immer wieder der Begriff „Freiheit“ ein. In Berlin zu sein hieß für mich auch, mich von meiner Familie zu befreien. Meine Familie liebt mich sehr, aber sie umklammert mich auch. Es ist manchmal eine Liebe, die mich zu erdrücken droht. In  Berlin dagegen konnte ich mich entfalten, neue Sachen machen, mich ausprobieren, viele neue Leute kennenlernen. 

Berlin ist für mich ein Dorf. Ich finde es super klein – verglichen mit São Paulo und seinen 27 Millionen Einwohnern. Am Anfang habe ich auch die Kiezmentalität in Berlin nicht verstanden. Die einzelnen Bezirke waren für mich schon ganz klein. Was meinten die Menschen nur, wenn sie von ihren Kiezen schwärmten? Aber jetzt liebe ich selbst meinen Kiez rund um den Nollendorfplatz. Ich bin total glücklich da. Ich mag auch Kreuzberg, besonders die Gegend rund um den Bergmannkiez.

Ich bin einige Jahre nach der Wende nach Berlin gekommen. Berlin war damals eine große Baustelle. An der Friedrichstraße war fast nichts, am Potsdamer Platz wurde gebaut und der Hauptbahnhof war noch nicht da. Riesige Flächen lagen brach.

Das Thema Ost-West war in meiner Anfangszeit in Berlin sehr aktuell. Im Kindermuseum haben wir viele Projekte dazu gemacht. Dann gab es eine Zeit, da wurde mir klar, dass  sich etwas verändert hat. Ich weiß noch, dass wir einen Workshops gemacht haben, ich eine Frage zum Thema Ost-West gestellt habe und die Kinder nicht wussten, wovon ich spreche. Seit ein paar Jahren taucht das Thema wieder stärker auf – in Zusammenhang mit Rassismus und Feminismus. In meiner Arbeit in einer Jugendbildungsstätte behandeln wir Fragen wie „Wie lebten schwarze Menschen in der ehemaligen DDR? Gab es eine feministische Bewegung in Ost-Berlin und wie lebten Frauen in der ehemaligen DDR? Es gibt immer noch so viele Spannendes, das wir uns unbedingt erzählen sollten, damit wir gut zusammen in Berlin leben können. 

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