Entschleunigung

H. und ich sind noch immer unterwegs in der Toskana. Wir hatten vor, uns mit einer Freundin von H. zu treffen, die in der Toskana lebt. Sie würde den ganzen September über am Meer sein, in ihrem kleinen Paradies, teilte sie uns mit. Sie bot uns an nachzufragen, ob an diesem paradiesischen Ort auch ein Plätzchen für uns frei wäre. 

Und nun sind wir hier, im Paradies, das ich anfangs so gar nicht als Paradies betrachten konnte. Für gut eine Woche ist ein kleines Haus unser Zuhause. Haus ist leicht übertrieben, denn wir haben nur ein etwas zu möbliertes Zimmer mit Ecken und Nischen, in dem wir wohnen, kochen und schlafen. Nach einem Besuch von P. und B., rief mich Letzterer an und fragte nach, wie es denn so wäre in unserem Domizil. B. brauchte etwas, bis er seine ehrliche Meinung kundtat: es wäre etwas dürftig in unserer Unterkunft, besonders für den Preis, den wir zahlen. Ja, das stimmt, gemessen an unseren Gewohnheiten ist es dürftig. Keine Geschirrspülmaschine, eine undichte Duschwanne, kein Föhn, ein leicht kaputter Sonnenschirm, zwei lahme Kochplatten, kaum Arbeitsfläche und kein W-Lan, durchaus schönes Geschirr, aber reduziertes Kochzubehör. Dafür sitzen wir inmitten von Olivenbäumen und schauen auf zwei hohen Pinien. Allerdings vermisse ich die schirmförmige Krone, die für Pinien in der Toskana typisch ist. Ich lese, dass dieser flache Schirm sich erst bildet, wenn eine Pinie ungefähr 50 Jahre alt ist und dass der Schirm immer flacher wird, je älter die Pinie ist. 

In unserem Paradies scheint die Natur halbwegs in Ordnung zu sein, das merken wir an den Insekten. Es gibt sie reichlich. Auch weiße, gelbe und braun-gemusterte Schmetterlinge flattern auf dem Grün vor dem Haus unentwegt von einem Löwenzahn zum anderen. Ab und zu schauen die Hunde unserer Vermieterin vorbei und gestern wurden wir Zeugen eines lautstarken Ehestreits. Gut, das hat mit der Natur nur bedingt zu tun, war aber ein Erlebnis.

Zur Außenwelt geht es 800 m einen Feldweg entlang. Das große Tor öffnet sich durch Eingabe eines Codes. Wir biegen um die Ecke, fahren drei Minuten, stellen das Auto ab, laufen 50 Meter durch einen Pinienhain und sind am Meer. Drei Tage brauche ich, bis ich anfange zu spüren, wie gut mir die beschriebene Dürftigkeit tut. Die Schlichtheit der Unterkunft und die Ruhe um mich herum entschleunigen meinen Geist und mein Gemüt. Die Unzulänglichkeit der Küchensituation zwingt mich zur Schlichtheit im kulinarischen Angebot. Ich schaffe einfache und gleichzeitig leckere Speisen. Die Abwesenheit des WLAN erzwingt Ruhe, endlich! Ich kann in Bücher einzutauchen. Ich fange an, das Unperfekte zu preisen. 

Eines morgens ist der Himmel voller Wolken, perfekt für einen Spaziergang am Meer. Es sind kaum Menschen da. Strand ohne Sonne ist für die Sonnenhungrigen, von denen es noch immer erstaunlich viele gibt, nicht attraktiv. Ich erinnere mich mit schlechtem Gewissen an die vielen Tage, die ich früher in praller Sonne in südlichen Gefilden am Strand verbracht habe – mit Olivenöl statt Sonnenschutz auf der Haut. 

Vor einer Surfschule steht ein leerer Tisch, auf dem ich einen Zettel mit überhöhten Preisen für Sonnenschirme und Liegen entdecke. Ein Händler, der Tücher und Schmuck anbietet, hat sich im Sand niedergelassen. Wahrscheinlich, weil keine Kundschaft da ist. Die Hüte, die er gern verkaufen würde, türmen sich eindrucksvoll auf seinem Kopf. Ich laufe den Strand entlang, suche Steine – flache, runde, dunkelbraune Steine, die ich vor ein paar Tagen hier entdeckt habe. Kleine Schönheiten! Ich kann nicht am Meer sein, ohne etwas zu sammeln. 

Ob die Leidenschaft, Dinge zu sammeln vielleicht Bestandteil der menschlichen DNA ist? Ich kenne kaum jemand, der nicht irgend etwas sammelt. Daran denke ich, als ich die kleinen braunen Kieselsteine in meinen Händen hin- und herbewege. Wahre Handschmeichler sind sie. Was mache ich nur mit ihnen? Seit ich gelesen habe, dass es verboten ist, aus Italien Kieselsteine mitzunehmen, muss ich jedes Mal daran denken, wenn ich einen Stein aufhebe.  

Vor Jahren habe ich am Strand von Sapri, im Golf von Policastro, Scherben von Fliesen entdeckt. Die Kanten vom Dasein im Wasser glattgeschliffen, die Farben verblasst, mediterran. Jede Scherbe ein Unikat. Am Ende des Urlaubs hatten wir einen Schuhkarton voller Fliesen-Scherben in verschiedenen Formen und Farben und kurz darauf einen neuen Balkontisch – ein Scherben-Kunstwerk, gefertigt von H.  

Zum Glück waren das keine Kieselsteine.  

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