Bunte Töne im Einheitsgrau

Es regnet. Die Kühltürme und Schornsteine vom Kraftwerk Schkopau versinken an diesem Novembertag im Einheitsgrau und wirken fast gespenstisch. 

Ich sitze im ICE von Berlin nach Stuttgart.

In Eisenach steigt ein Mann ein – graue Haare, grauer Anzug, graue Wanderschuhe, roter Anorak und Gitarre. Er setzt sich auf die andere Seite des Gangs, legt sein ipad auf den Tisch vor sich, packt seine Gitarre aus und entlockt dem Instrument ein paar unbeholfene Töne – dann fängt er an zu singen. Offensichtlich versucht er gerade einen Song zu komponieren und zu texten. Er befindet er sich unverkennbar in einer Übungs- oder Experimentierphase. Der Mann singt leise und undeutlich, ich verstehe nur Fragmente:: „Schaff dem Leben Freude – schau durch die Gegend“ – in meinen Ohren klingt alles etwas schräg. Ich sehe aus dem Fenster in die triste graue Landschaft, die draußen an mir vorbeizieht. Viel Freude bereitet es mir nicht, nach draußen zu schauen.

Für einen kurzen Moment kehrt Ruhe ein, dann richtet der Mann das Wort an die anderen Fahrgäste und bittet um Hilfe bei seiner Dichtkunst. Ich schaue weiter aus dem Fenster und tue so, als ob ich nichts mitbekomme. Der Mann spricht einen Fahrgast ohne Maske, der vor mir sitzt, direkt an und fragt ihn, ob er einen Formulierungsvorschlag für seinen unvollendeten Text hätte. Dieser scheint nicht zu reagieren, der Gitarrenspieler lässt nicht locker. In der Fensterspiegelung sehe ich, wie der Mann vor mir seine Kopfhörer abnimmt. Er sei gerade mit etwas anderem beschäftigt, antwortet er auf die wiederholte Frage des Dichters.  „Ja, ja, das ist ja auch gar nicht wichtig, was ich hier mache“ erwidert dieser beleidigt. Ich krame in meinem Rucksack und suche verzweifelt nach meinen Kopfhörern, während ich weiter starr aus dem Fenster schaue, um dem Blick des Mannes nicht zu begegnen. Warum eigentlich?

Dann steht er auf, packt seine Gitarre und verschwindet. Unterdessen kommt der Schaffner und bittet den Fahrgast vor mir zum wiederholten Mal eine Maske zu tragen – dieser weigert sich. „In einem Monat ist sowieso alles vorbei“, sagt er. „Wenn Sie die Maske nicht aufsetzen, ist Ihre Reise am nächsten Bahnhof vorbei“, ermahnt ihn der Schaffner und geht weiter.
Nach einer Weile kommt der Gitarrenspieler zurück. Er tippt etwas in sein ipad und entlockt seiner Gitarre erneut einige Akkorde. „Weil du nicht geduldig bist …“ singt er,  „Willst du mir gefallen, du musst es nur schnallen“. Er seufzt. „Schönes Liebeslied“ höre ich ihn sein Werk loben.

„Schenke mir Aufmerksamkeit“ beginnt er wieder – das scheint der Refrain zu sein, denn diese Zeilen wiederholt er mehrmals. Dann haucht er „Oh Gott“, überwältigt von seinen Zeilen und packt seine Gitarre ein. In Frankfurt zieht er seinen roten Anorak über den grauen Anzug und steigt aus. Der Mann vor mir hat sich inzwischen eine Maske über den Mund gezogen und steigt ebenfalls aus. 

Da fällt mir wieder der Satz meiner Freundin R. ein: „Die Welt ist bunt!“ Ich hätte mich über die Ruhestörung ärgern können – aber warum eigentlich? Am Ende freue ich mich über die Farbe, die der Mitreisende in diesen grauen Novembertag gebracht hat. „Schaff dem Leben Freude – Schau durch die Gegend!“

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  1. Nett Elke, je oller je doller!

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