KOMA, Teil 2/2

Heute kommt Teil 2 meines „Erfahrungs“-Berichtes über meine Zeit im künstlichen Koma. 

Ich habe mir in der Zeit seit Veröffentlichung des ersten Teils die Frage gestellt, was eigentlich der größte „Horror“ während des Komas war. Empfinden von Einsamkeit, Verlassenheit, Hilflosigkeit? Zusammenfassend dominierte das Gefühl, die eigene Souveränität verloren zu haben, nicht mehr autonom über mich selbst bestimmen zu können, sondern „irgendwelchen“ Mächten ausgeliefert zu sein. 

Bekommen Koma-Patienten „etwas mit“? 

Ich weiß es nicht. Aber an meinem (Intensiv-)Krankenbett wurde zwischen meinen Angehörigen und den Ärzten über ein drohendes Nierenversagen, eine mögliche Dialyse oder gar eine Transplantation gesprochen. Und so könnte zwischen eventuell Gehörtem/Wahrgenommenem und meinen Fantasien eines Organraubes doch ein Zusammenhang bestehen?

Teil 2

Im Koma erlebe ich mich auch als Opfer einer Intrige mafiöser Mächte. Machenschaften führen zu der Unterstellung, ich habe jemanden niedergeschlagen. Aufgrund eines Haftbefehls werde ich festgehalten – und zwar im Justizvollzugskrankenhaus. Meine Fluchtversuche werden vereitelt. Grund für diese abstruse Vorstellung ist sicher auch mein beruflicher Hintergrund als Sozialarbeiter im Justizvollzug.

Meine Frau hat mir später erzählt, meine Überzeugung, diese Vorstellung sei Realität, sei sehr stark gewesen. Ich widersprach den Erklärungen des Pflegepersonals, ich befinde mich in einem „normalen“ Krankenhaus, heftig und soll geäußert haben, ich sei „ein typischer Fall für den offenen Vollzug“.

Zeitweise habe ich die Vorstellung, der Keller unseres Reihenhauses sei mit den Kellern von zwei Nachbarhäusern verbunden. Dort habe man eine Außenstelle des Krankenhauses eröffnet und eine Intensivstation eingerichtet. Unser eigenes Haus sei von meiner Frau an das Krankenhaus verkauft worden; die Nachbarn bemerken gar nicht, dass sich quasi unter ihren Füßen eine Krankenstation befindet.

Ich liege im Keller und bin wieder an ein Krankenhausbett fixiert. Man hat in die Kellerdecke Lüftungen eingebaut. Hinein fliegen kleine Fledermäuse, die dort ihre Jungen aufziehen. Ich habe Angst davor, dass die Exkremente der Fledermäuse von oben in mein Bett fallen und bei mir Krankheiten verursachen. Außer mir nimmt offensichtlich niemand die Tiere wahr.

Zeitweise bin ich überzeugt, auf einem Kreuzfahrtschiff zu sein. Ich bin wohl krank und liege in einem Sessel, an dessen Lehnen ich fixiert bin. Vor mir befindet sich ein durch große Tücher oder Bettlaken abgesperrter Bereich, den ich als Theaterbühne verstehe. Die Handlung besteht darin, dass nur undeutlich zu sehende Schauspieler in absurder Weise hin- und hergehen. Dialoge gibt es nicht. Dafür eine Menge Pausen. Zu hören sind manchmal Frauen, die schöne Melodien singen. Ich warte immer darauf, dass der Speisesaal des Schiffes öffnet, damit ich mir etwas zu trinken beschaffen kann. Aber das passiert nicht. Der quälende Durst macht mir zu schaffen. Ab und zu gibt mir ein Mann mit der für Matrosen üblichen Strickmütze etwas zu trinken. Er überprüft gleichzeitig die Fixierungen und vereitelt meine Versuche, mich zu befreien.

Irgendwann scheint das Schiff anzulegen. Die Tücher um die Bühne herum werden entfernt und in der Mitte ist Markus Maria Profitlich als einziger erkennbarer Schauspieler zu sehen. Er sitzt auf einer Art Barhocker.

Skurril war auch das Erleben meiner Krankenhausentlassung.

Der vermeintliche Haftbefehl ist aufgehoben und meine Unschuld hat sich herausgestellt. Nun habe ich aber die Rache der mafiösen Kräfte zu befürchten. In einer geheimen Operation werde ich zu meinem Schutz von einem Rettungswagen aus einem Krankenhaus abgeholt, um in das Krankenhaus meines Wohnorts gebracht zu werden.

Schon die Abholsituation ist beängstigend: Während ich auf einer Trage über lange Krankenhausflure zum Rettungswagen gerollt werde, sehe ich auf den Fluren eine Vielzahl anderer Trupps von Sanitätern, die ebenfalls nach mir fragen. Ich bin überzeugt, dass es sich dabei nicht um echte Sanitäter handelt, sondern um Killerkommandos, die auf mich angesetzt sind. Ich gelange unbeschadet in den Rettungswagen, bin mir aber nicht sicher, ob ich nicht doch einem Killerkommando ausgeliefert bin. Ich bin fixiert, kann auch keine Gegenstände sehen, die ich zur Verteidigung als Waffe bei einem eventuellen Angriff nutzen könnte. Schrecklich wird die Situation, als der Wagen hält und die beiden Sanitäter ihn verlassen. Ich bin überzeugt, dass sie Platz für die Killer machen. Die Beiden steigen mutmaßlich nach einer Zigarettenpause wieder ein und der Rettungswagen erreicht das Ziel. Ich finde mich in einem anderen Krankenhaus wieder, aus dem ich dann entlassen werden soll.

Zum Ende der Aufwachphase, als die meisten Narkosedrogen aus meinem Körper gespült waren, habe ich an einem Morgen einige Tränen in mein Kopfkissen „gedrückt“ – vor Glück und Dankbarkeit darüber, überlebt zu haben.

Im Familienkreis und mit Freunden wurde viel über meine „Erlebnisse“ im Koma gesprochen. Anfangs, in der ersten Woche meines vierzehntägigen Aufenthalts in der geriatrischen Abteilung, lag ich nachts stundenlang wach. Die Erinnerung an die erlebten Horrorszenarien ließ sich nicht zurückdrängen. Immer die gleichen Gedanken und Versuche, sie in Worte zu fassen, mäanderten und spiralten in meinem Kopf. Auch heute noch kann das vorkommen. Das ist für mich der Grund, diesen Beitrag zu verfassen.

Aber je weiter die Zeit zurückliegt, umso größer wird der Abstand. Auf manches kann ich sozusagen „von oben“ schauen. Es gibt auch Details, die schon Anlass zum Lachen bieten: Etwa, wenn erzählt wird, ich habe – noch vollgepumpt mit Narkosemitteln – einen Arzt gefragt, ob ich bei ihm wohl ein Praktikum machen dürfe.

Wie erwähnt, hat man mich für zwei Wochen auf die Geriatrie gelegt. Dort habe ich neu gelernt, selbst zu gehen und mich zu versorgen. Die Kraft in den Armen hatte ich fast völlig verloren, so dass es eine körperliche Anstrengung war, selbstständig zu duschen, mich abzutrocknen und anzukleiden.

Und nun? – Es sieht, Gott sei es gedankt, so aus, dass ich meinen Lebensweg diesseits der endgültigen Grenze noch ein Stückchen weiter gehen darf. 

Wie lange? – Das muss offen bleiben, mit siebzig ist die Strecke ja schon etwas überschaubar.

Wovor habe ich Angst?

Den Horror eines Komas noch einmal erleben zu müssen. Und (nach dem Erleben völligen Verlassenseins), dass meine Frau Sabine oder ich zum Ende fast unausweichlich einen Teil des Weges allein werden gehen müssen.

Worauf ich mich nach dem Aufwachen gefreut habe und weiterhin freue:

Auf gemütliche Tage und Abende mit meiner Frau, Zusammensein mit der Familie und Freunden, die zwischenzeitliche Geburt unserer Enkeltochter Marlene im März, auf und über mein eigenes Bett (!), einen ersten Single Malt vier Wochen nach der Krankenhausentlassung (es musste dann auch nicht der Billigste sein) und auf unsere Urlaubsreise nach Henne Strand im Sommer.

Was habe ich gelernt:

Jemandem zu widersprechen, der unter dem Einfluss einer Koma-Medikation steht, ist sinnlos und führt nur dazu, dass seine oder ihre „Realität“ vehement verteidigt wird. Ich jedenfalls habe dann Gespräche einfach abgebrochen und stur angekündigt, mir eben anderswo Hilfe oder die erwünschte Zustimmung zu suchen. Freundlich war ich dabei nicht immer. Und: Dass der viel bemühte Kalenderspruch „morgen könne alles vorbei sein“ doch einen riesigen Kern Wahrheit enthält.

In vielfältiger Weise haben ich und auch meine Familie Unterstützung durch Genesungswünsche, stille und gesprochene Gebete, manche angezündete Kerze und mannigfachen Zuspruch erhalten. Zu danken habe ich meiner Frau Sabine, die mich – völlig anders als von mir wahrgenommen – Tag für Tag in den verschiedenen Krankenhäusern besucht hat, sich beharrlich und hartnäckig mit den Ärzten auseinander gesetzt und für mich gekämpft hat. Unsere vier tollen Kinder haben mit einer großen Selbstverständlichkeit eigene Bedürfnisse und Aufgaben zurückgestellt, mich so wie es ihnen möglich war besucht und Aufgaben und Pflichten, für die ich zuvor verantwortlich war, übernommen. In gleicher Weise wurden sie von meinen Schwiegerkindern unterstützt. Meine beiden acht bzw. vier Jahre alten Enkel Jonte und Matti, ließen es sich nicht nehmen, mich im Krankenhaus zu besuchen. Unendlich leid tut mir, dass sie in ihrem jungen Alter die Sorge und Angst um ihren Opa erleben mussten.Ich danke auch meiner Schwester und ihrer Familie für ihren Beistand. Und allen Freunden und Bekannten, früheren Kollegen und Nachbarn. Und dem medizinischen Personal, das für meine Gesundung gesorgt hat.

P.S. Zeichnung zum Beitrag: Karin Toro Rojas

3 Kommentare Gib deinen ab

  1. Luisleblog sagt:

    Lieber Reinhard,
    so viel von dem was du schreibst, erinnert mich daran, was mein Vater, von der Zeit erzählte, als er im künstlichen Koma lag. Sein Körper sei in seiner Vorstellung wie ein „Schweizer Käse“ durchlöchert gewesen und Würmer seien durch ihn hindurch gekrochen. Er – den wir als sehr gutmütigen und geduldigen Menschen kannten – warf Gläser gegen die Krankenhauszimmertür, wenn seine „Hilferufe“ nicht gleich vom Personal erhört wurden – weil er so verzweifelt war.
    Im Krankenhaus war er deshalb, nachdem er wieder selbständig atmen konnte, nicht mehr länger tragbar. Am Anfang fragten wir uns, ob wir ihn so nach Hause holen könnten oder ob er ein Fall fürs Pflegeheim sei. Glücklicherweise haben wir darüber nicht sehr lange nachgedacht und ihn, trotz aller Schwierigkeiten, nach Hause geholt. Wir haben es dann geschafft, mit Unterstützung der ganzen Familie, eine 24-Stunden-Betreuung an seinem Bett zu organisieren und nach wenigen Wochen erholte er sich und wurde nach und nach wieder ganz der Alte. Ich mag mir nicht ausmalen, wie es ihm ergangen wäre, wenn wir ihn in ein Pflegeheim gebracht hätten.
    Auch mein Vater sah die Welt übrigens zeitweise aus der „Vogelperspektive“.

    Nochmals vielen Dank dafür, dass du deine Erfahrungen mit uns teilst. Ich wünsche dir für die Zukunft Alles Gute und dass du noch lange Zeit das Zusammensein mit deiner Familie genießen kannst und dir ab und zu einen guten „Single Malt“ gönnst.

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  2. Anke sagt:

    Lieber Reinhardt,
    Sie hatten eine gute Idee, darüber zu schreiben. Das sind Themen, über die wir als Laien nichts wissen und wenn wir selbst oder uns nahestehende Personen Vergleichbares erleben, belasten diese Traumata zusätzlich zur Sorge wegen der ursächlichen Erkrankung. Darüber zu berichten hilft Ihnen, Abstand zu bekommen, und uns Lesern, ein Stück weit Verständnis zu erlangen. Vielen Dank dafür!
    Ich wünsche Ihnen viel Freude im zurückgewonnenen Leben bei guter Gesundheit.
    Herzliche Grüße aus Italien! Anke

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  3. Fabian sagt:

    Lieber Reinhardt,
    Wir kennen uns nicht persönlich, aber deine Schwiegertochter und frisch gebackene Mutter hat mich auf die Blockbeiträge aufmerksam gemacht. Ich habe sie mit Neugierde, Respekt und auch etwas Ehrfurcht gelesen.
    Ich gewann den Eindruck, dass im Koma die Hilflosigkeit gepaart mit Ängsten und beunruhigenden Gesprächsthemen eine sehr unangenehme Mischung erzeugt haben. Ich dachte dann darüber nach, inwieweit schöne Erzählungen und bildhafte Beschreibungen eine Komaerfahrung mitunter womöglich positiver prägen könnten. Das hoffe ich jedenfalls für alle.

    Ich wünsche auf jeden Fall weiterhin gute Besserung, lange Gesundheit und viele wertvolle Stunden mit deinen wichtigsten Menschen.

    Herzliche Grüße aus Bielefeld.

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